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Große Straße 76

Bertha Lehmann, Cissy Wulff, Betty Heidemann, Paula Dannenberg

Die gebürtige Wolfhagenerin Bertha Lehmann (geb. Wertheim, Jg. 1864) war von 1882 – 1924 mit dem Verdener Bankier Max Lehmann (Jg. 1857) verheiratet. Das Ehepaar hatte eine Tochter: Erna, verh. Strauß (Jg. 1886). Sie überlebte in der Emigration.

Zur Führung ihres Haushalts war Bertha Lehmann auf Haushaltshilfen angewiesen. Paula Dannenberg (Jg. 1888) aus Ziegenhain (heute Schwalmstadt), zuletzt wohnhaft in Würzburg, war von 1935 – 1937 bei ihr beschäftigt, Betty Heidemann (Jg. 1889) aus Osterholz-Scharmbeck von 1937 – 1941. Beide überlebten den Holocaust nicht. 1939 zog die ebenfalls verwitwete Cissy Wulff (Jg. 1867) zu ihrer Schwester Bertha Lehmann. Unter besonderer Beobachtung der NS-Ortsgruppenleitung stehend, sozial isoliert, auch denunziert beschlossen die Schwestern, ins Jüdische Altersheim nach Bremen-Gröpelingen zu ziehen. Sie meldeten sich am 19.12.1941 in Verden ab. Bertha Lehmann und ihre Schwester wurden im Juli 1942 in das sog. Altersghetto Theresienstadt deportiert. Sie starben dort völlig entkräftet laut Todesfallanzeigen am 29.12.1942 bzw. am 19.01.1943.

Bertha Lehmann

Bertha Lehmann, geb. Wertheim, wurde am 27.03.1864 in Wolfhagen bei Kassel geboren. Sie war die ältere Schwester von Cissy Wulff. Noch 1942 waren die Schwestern Eigentümerinnen eines Feldgrundstückes in der Gemarkung Ehringen bei Wolfhagen, das „arisiert“ werden sollte. Bertha Lehmann heiratete am 03.09.1882 den am 10.02.1857 in Verden geborenen Bankier Max Lehmann, der am 19.04.1924 in Verden verstarb.Sein Grab befindet sich auf dem Jüdischen Friedhof am Ahornweg. Die Familie Lehmann gehörte zu den alteingesessenen jüdischen Familien Verdens. Max Lehmanns Großvater Ascher Lämle Weldsberg (1789 – 1858) war einer der ersten jüdischen Händler, die sich während der napoleonischen Ära in Verden niedergelassen hatten. In seinen Tagebuchaufzeichnungen heißt es: „Ich wohnte in Hoja von 1806 bis 1810. Da erhielt ich ein Schreiben von dem damaligen hiesigen Bürgermeister Münchmeyer (…), nach Verden zu ziehen, ich könnte Staatsbürger werden.

Ich besann mich nicht lange und zog im November mit meiner lieben Frau und beiden Töchtern hierher.“ Weitere wichtige familiengeschichtliche Informationen enthält der am 24.04.1924 im Verdener Anzeigenblatt erschienene Nachruf auf Max Lehmann: „Im 68. Lebensjahr entschlief am Ostersonnabend infolge eines Gehirnschlages der Direktor der hiesigen Hannoverschen Bank, Herr Max Lehmann. Der Verstorbene genoss als Mensch und besonders auch als Bankier das uneingeschränkte Vertrauen weitester Volkskreise. Ein Vertrauen, das er sich durch freundliches Wesen, strenge Gewissenhaftigkeit in den Jahren seiner Wirksamkeit in seiner Heimatstadt Verden zu erwerben und zu bewahren gewusst hat. Direktor Lehmann übernahm die von seinem Vater hier gegründete Bank im Jahre 1880, verschmolz diese dann im Jahre 1902 mit der  Hannoverschen Bank. Im Jahre 1920 wurde die Hannoversche Bank von der Deutschen Bank übernommen und mit ihr auch die Verdener Filiale.

Todesfallanzeige vom 29.10.1942

Der Name Lehmann, der hier über 100 Jahre zu den bekanntesten Familien zählte, stirbt mit Max Lehmann nun aus. Möge ihm die Erde leicht sein.“ Kranzspenden hatte sich Bertha Lehmann „dankend verbeten“. Bertha Lehmann wurde fortan in den Unterlagen der Stadt Verden als  „Witwe“ geführt. Ihrer Tochter Erna Strauß (*26.05.1886 in Verden) gelang 1938 zusammen mit ihrem Ehemann von Köln aus über Belgien (1938) die Emigration in die USA (1940). Ihr schrieb Bertha Lehmann am 02.11.1941 einen Brief, aus dem das folgende aufschlussreiche Zitat stammt: „Von hier fahren in nächster Zeit auch viele Familien fort: Max und Senta (s. Senta Löwenstein), unser Fräulein Heidemann (s. Betty Heidemann), Lieschen (s. Luise Baumgarten) usw. Wir Alten bleiben allein. Ach, wie gut hat es Vater.“ Hatte er noch das „uneingeschränkte Vertrauen weitester Volkskreise“ genossen, so sah sich Bertha Lehmann nur wenige Jahre später einem Klima der Denunziation ausgesetzt. Am 02.11.1940 wurde es auf Veranlassung des Ortsgruppenleiters der NSDAP Woltersdorf „den Juden verboten“, die städtischen Grünanlagen zu betreten. In einem Brief an den Bürgermeister vom 23.10.1940 nahm er Bezug auf tatsächliche oder erfundene Beschwerden „von Volksgenossen“, „dass an schönen sonnigen Tagen der Rosengarten von den Juden bevölkert ist und die besten Plätze von diesen besetzt sind. Frau Lehmann sitzt mit ihrem Anhang ständig an einem der schönsten Plätze.“ Das Verbot wurde sogar per Zeitungsanzeige veröffentlicht. Zusätzlich wurde der „Vorsteher der Judengemeinde“ schriftlich benachrichtigt. Es war nur noch erlaubt, auf Bänken zu sitzen, die als „Judenbänke“ gekennzeichnet waren. Anzahl und Standort solcher Bänke sind nicht bekannt. Ihre Schwester war inzwischen zu ihr gezogen. Die Kosten für die gemeinsame Haushaltsführung und die „sehr gut eingerichtete, große Wohnung“ konnten somit geteilt werden. Unterstützt wurden die beiden älteren Damen durch die „Haushilfe“ Betty Heidemann. Noch war Bertha Lehmann in ihrer materiellenExistenz nicht unmittelbar bedroht. Da Max Lehmann Haus und Grundstück schon 1921 verkauft hatte und der Käufer dem Ehepaar Lehmann ein im Grundbuch eingetragenes lebenslanges Wohnrecht garantiert hatte, war Bertha Lehmann nach dem Tod ihres Ehemannes allein berechtigt, das Wohnrecht wahrzunehmen. Zudem bezog sie seit dem 01.10.1924 von der Deutschen Bank ein „Witwengeld“. Ein Rechtsanspruch darauf habe nicht bestanden, behauptete noch 1958 die Bank. Die Zahlung der Rente sei auf Widerruf erfolgt. Außerdem sei die Bank aufgrund der „11. Durchführungsverordnung zum Reichsbürgergesetz von 1935“ verpflichtet gewesen, die Rentenzahlung am 06.08.1942 einzustellen. Planmäßig isoliert, ohne soziale Kontakte, ohne Teilhabe am öffentlichen Leben und dann auch noch ohne Haushaltshilfe sahen sich Bertha Lehmann und ihre Schwester gezwungen, ihre Heimatstadt nur einen Monat nach der Deportation des größten Teils der Mitglieder der ehemaligen Synagogengemeinde Verdens nach Minsk zu verlassen und nach Bremen ins Jüdische Altersheim (Gröpelinger Straße 167) zu ziehen. Laut Eidesstattlicher Versicherung Ihrer Tochter musste sie ihre gesamte Wohnungseinrichtung mitnehmen, die dann „für die Einrichtung des Heims benutzt wurde“. Bertha Lehmann war 78 Jahre alt, als sie den Deportationsbefehl ins „Altersghetto“ Theresienstadt erhielt. „Die Juden aus dem Bezirk Wilhelmshaven sind nach Bremen und von dort gemeinsam mit den Juden aus dem Bezirk Bremen in 4 Sonderwagen im Einvernehmen mit der örtlichen Reichsbahndirektion nach Hannover zum Haupttransport zu überstellen. Hier erfolgt die Einrangierung der benötigten Güterwagen.“ Das geschah am 23.07.1942. In Hannover erhielt Bertha Lehmann die Transportnummer 695 (von insgesamt 779). Der Transport VIII/14 erreichte das KZ Theresienstadt am 24.07.1942. Theresienstadt erwies sich als „tödliche Täuschung“. Der Tod war allgegenwärtig, auch wenn es hier keine Gaskammern, Gaswagen oder Massenexekutionen gab. Besonders prekär war die Lage im Ghetto im Sommer und Herbst 1942. Die Menschen hungerten und litten unter den katastrophalen hygienischen Bedingungen. Die Anzahl der Todesfälle stieg rapide an. Bertha Lehmann starb nur ca. drei Monate nach der Deportation am 29.10.1942 um 4 Uhr 30 in dem Zimmer, in das sie zusammen mit ihrer Schwester u.a. eingewiesen worden war. Als Todesursache notierte der behandelnde Arzt: „Herzmuskelerkrankung“. An Bertha Lehmann erinnert folgende auf dem Grabstein für ihren Ehemann ergänzte Inschrift: „Zum Andenken an Bertha Lehmann, geb. Wertheim – geb. 27.März 1864 in Wolfhagen, gest. in Theresienstadt“.

Cissy Wulff

Cissy Wulff, geb. Wertheim, wurde am 20.02.1867 in Wolfhagen bei Kassel geboren. Sie war verheiratet mit dem „ungefähr 1900 in Geestemünde“ verstorbenen Kaufmann Nathan Wulff. Das Ehepaar hatte einen Sohn. Erich Wulff (* 1889) besuchte von 1900 bis 1902 das Domgymnasium. Am 20.10.1921, dem Tag der Einführung der Einwohnermeldekartei, war Cissy Wulff in der Großen Straße 43 (s. Senta Löwenstein) gemeldet und vom 20.06.1939 bis zum 18.12.1941 bei ihrer älteren Schwester Bertha Lehmann in der Großen Straße 76. 1922 wurde sie im Verdener Adressbuch bereits als „Rentiere“ geführt. Von der Deportation am 17./18.11.1941 sind die Schwestern als bereits über 70-jährige noch verschont geblieben, sicherlich aus psychologischen Gründen, um die nach Minsk „zum Arbeitseinsatz Evakuierten“ in ihrer Ahnungslosigkeit zu bestärken. Sie fühlten sich in Verden isoliert, eingeschüchtert und verängstigt, waren aber trotz willkürlich erhobener Zwangsabgaben (z.B. „Sühneleistung“ aufgrund der berüchtigten „Verordnung über eine Sühneleistung der Juden“ vom 12.11.1938) in ihrer materiellen Existenz noch nicht unmittelbar bedroht. Sie führten einen gemeinsamen Haushalt und hatten auch bis zu deren Deportation am  17.11.1941 eine „Haushilfe“. Noch 1939 schloss Cissy Wulff einen Rentenversicherungsvertrag mit dem Gerling-Konzern ab, um ihre noch verbliebenen Ersparnisse mittels einer einmaligen Prämie vor dem unmittelbaren Zugriff der NS-Behörden und sich selbst monatlich eine bescheidene Rente zu sichern. Die Schwestern meldeten sich angesichts einer drohenden Einweisung in ein „Judenhaus“ am 18.12.1941 in Verden ab, um ins Jüdische Altersheim nach Bremen, Gröpelinger Heerstraße 167, zu ziehen. Dieses musste nicht erst zu einem „Judenhaus“ deklariert werden. Dort wurden überwiegend die über 70-jährigen noch in Bremen und Umgebung lebenden jüdischen Einwohner konzentriert.

Todesfallanzeige vom 19.01.1943

Behördlicherseits gab es bereits Pläne für eine zukünftige Nutzung nach einer Räumung. „Nach der erfolgreichen Evakuierung der dort untergebrachten Juden“ sollte das Altersheim „mit Wirkung vom 23.07.1942 als Behördenunterkunft sichergestellt“ werden. Daher waren „die z.Zt. in jüdischen Altersheimen untergebrachten Juden“ bei der „Evakuierung“ am 23.07.1942 „an erster Stelle“ zu erfassen. Für die Durchführung der „Evakuierung“ ab Hannover am 24.07.1942 von insgesamt 779 Deportierten, darunter 173 aus dem Bereich der „Staatspolizeistelle Bremen“, war die „Staatspolizeistelle Hannover“ verantwortlich. Mit der Zusammenstellung der Deportationsliste in Bremen wurde die Reichsvereinigung der Juden, Bezirksstelle Nordwestdeutschland (Büro Bremen) beauftragt. Von dieser wurden die Betroffenen ca. zwei Wochen vor dem bereits feststehenden Termin darüber informiert, „dass in Kürze der Abtransport sämtlicher in Bremen, Wesermünde und im Reg. Bez. Stade lebenden Juden – außer den noch bestehenden Mischehen – nach Theresienstadt vor sich geht.“ Rückwirkend zum 01.03.1942 wurde „sämtliches bewegliches und unbewegliches Vermögen“ beschlagnahmt. „Jeder abzuschiebende Jude hat sein Bargeld, seine Wertpapiere, Sparkassenbücher, sonstigen Wertgegenstände – wie Schmucksachen, Ringe, Halsketten, Armbänder usw. – bei seiner Festnahme bei sich zu führen. Alle diese Gegenstände werden ihm bei der Durchsuchung der Koffer und der Leibesvisitation im Sammellager Ahlem abgenommen. Keinesfalls dürfen Juden Bargeld oder Wertgegenstände auf dem Transport mitnehmen. Nur Eheringe dürfen den Juden belassen werden“, heißt es entlarvend in dem Anschreiben der „Staatspolizeidienststelle Hannover“ vom 10.07.1942. Darüber hinaus verlor Cissy Wulff auch ihre Rentenansprüche. Die Rentenzahlungen wurden am 31.08.1942 eingestellt. „Wir bitten Sie, mit größter Ruhe Ihre Vorbereitungen zu treffen und über die Abwanderungen nicht mit der deutschblütigen Bevölkerung zu sprechen, vor allem ist es untersagt, bei außenstehenden Kreisen irgendein Mitleid zu erregen“, musste Cissy Wulff in der persönlichen Benachrichtigung am 10.07.1942 über die bevorstehende „Abwanderung nach Theresienstadt“ lesen. Aufsehen sollte vermieden werden. Den Betroffenen war gestattet, bis zu 50 kg Gepäck, vollständige Bekleidung, Bettzeug, Verpflegung und Essgeschirr mitzunehmen. Sie wurden am 23.07.1942 in Gruppen von 10 bis 15 Personen zum Bahnhof geführt. „Im Morgengrauen und bei strömendem Regen mussten die Leute unter freiem Himmel stehen, bis sie endlich in Eisenbahnwagen verladen wurden“, erinnerte sich der Zeitzeuge Bruno Nette 1948.

Über das, was sich bei der Ankunft des Deportationszuges am 24.07.1942 in Bauschowitz ereignete, liegt ein Zeitzeugenbericht von Miroslav Karny vor: „Kaum vorstellbare Szenen spielten sich ab, wenn die völlig desorientierten (…) Juden mit ihrem 50 kg schweren Gepäck, in das sie oft Sachen eingepackt hatten, die für das Lagerleben auf geradezu groteske Weise unbrauchbar waren, auf dem Bahnhof von Bauschowitz ausstiegen und die zweieinhalb Kilometer nach Theresienstadt zu Fuß zurücklegen mussten.“

Nach der Ankunft in Theresienstadt mussten die Deportierten zunächst die „Schleuse“ passieren und sich einer erneuten Kontrolle unterziehen. Dann wurden ihnen die Unterkünfte „in Kasematten oder auf Dachböden“ zugewiesen. „Zum Essen bekamen sie etwas Kaffee-Ersatz und eine Scheibe Brot.“ Angesichts der katastrophalen hygienischen Bedingungen in den total überfüllten Räumen dürfte es für die Schwestern tröstlich gewesen sein, dass sie nicht getrennt wurden. Sie wohnten im Gebäude L 120, Zimmer-Nr.115. Ein „Vorzeige- und Altersghetto“ war Theresienstadt allenfalls partiell dann, wenn ausländische Rot-Kreuz-Delegationen die „vom Führer geschenkte Stadt“ besuchten. Cissy Wulff war nun schon 75 Jahre alt. „Bei dem Alter der Frau Wulff und den bekannten gesundheitsgefährdenden Zuständen in derartigen Ghettos musste auch mit dem baldigen Tod einer Eingelieferten gerechnet werden“, heißt es fern jeglicher Empathie in der Urteilsbegründung „der Entschädigungssache“ ihres erbberechtigten Enkels Klaus N. Wulff gegen die Freie Hansestadt Bremen 1961. Cissy Wulff starb laut „Todesfallanzeige“ des Ältestenrates des Ghettos Theresienstadt am 19.01.1943. Als Krankheit und Todesursache wurde von der behandelnden Ärztin „Erysipel = Rotlauf“ eingetragen. Die Gültigkeit des Todesdatums wurde per Gerichtsbeschluss bestätigt, die Klage abgewiesen.

Betty Heidemann

Betty Heidemann wurde am 06.08.1889 in Osterholz-Scharmbeck geboren. Ihre Eltern waren David Heidemann und Dina1 Heidemann, geb. Herzberg. Die Familie Heidemann gehörte zu den alteingesessenen jüdischen Kaufmannsfamilien Osterholz-Scharmbecks. Schon 1937 musste die Familie Heidemann ihr Textilgeschäft aufgeben. Am 19.01.1937 meldete sich Betty Heidemann, aus Osterholz-Scharmbeck kommend, in Verden an. Sie wohnte in der Großen Straße 76 bei Bertha Lehmann und war dort als Hausangestellte beschäftigt. Am 17.11.1941 wurde sie als einzige jüdische Bewohnerin im Gegensatz zu den schon über 70-jährigen Schwestern Bertha Lehmann und Cissy Wulff „evakuiert“, um am folgenden Tage von Bremen ins deutsche Sonderghetto Minsk „zum nutzbringenden Arbeitseinsatz der Juden für die deutsche Wirtschaft“ deportiert zu werden. Noch waren die über 65-jährigen laut offizieller Anordnung nicht betroffen. Das schien logisch, war in Wirklichkeit aber Teil einer perfiden Herrschaftsmethode der Nazis. Sie ließen auf diese Weise die ahnungslosen Deportierten in dem Glauben an eine mit Arbeitseinsätzen im Osten verbundene Aussiedlung. Davon, dass deutschen Juden nichts passieren würde, waren die meisten Betroffenen überzeugt, hatten sie doch das entwürdigende, schikanierende und ausbeuterische Sonderrecht für die jüdischen Deutschen nicht zuletzt aus Furcht vor den drakonischen Strafen hingenommen, so auch Betty Heidemann. Schon einen Tag nach Inkrafttreten der „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“ hatte sie am 27.04.1938 ihr Vermögen angegeben. Davon sollte ihr nichts bleiben.

Auszug aus der Geburtsurkunde (Zwangsvornamensannahme und Löschung)

Ca. 14 Tage vor der Deportation wurden die Betroffenen amtlicherseits informiert. „Es gibt viel Arbeit“, schrieb Bertha Lehmann an ihre Tochter in den USA, „wir haben heute die Sachen für Fräulein Heidemann in Ordnung gebracht und haben jetzt viel für sie zu nähen, bei der Kälte ist eine weite Reise zu schrecklich.“ 50 Kilogramm „Reisegepäck“ und 50 RM pro Person waren erlaubt. Am Vorabend der Deportation soll es sogar eine bescheidene Abschiedsfeier gegeben haben. Auch Luise Baumgarten und Gertrud Jacobsohn verbrachten die letzte Nacht am 16./17.11.1941 vor der Deportation in Bertha Lehmanns Wohnung. Aus dem Ghetto, tatsächlich aber Vernichtungslager Minsk, kehrte Betty Heidemann nicht mehr zurück. Das Ghetto Minsk war nach der Einnahme der Stadt am 28.06.1941, also nur eine Woche nach dem Überfall auf die Sowjetunion, von der Wehrmacht für zurückgebliebene 75.000 Minsker Juden auf einem ca. zwei Quadratkilometer großen Gelände im Westen der Stadt eingerichtet worden und nach dem Beginn der Deportation deutscher Juden im November 1941 in zwei durch einen Stacheldrahtzaun getrennte Areale aufgeteilt worden, in das größere (weiß)russische Ghetto und das deutsche Sonderghetto. Die meisten der aus Bremen am 18.11.1941 Deportierten überlebten den harten Winter 1941/42 mit bis zu minus 40° C nicht. Sie waren untergebracht in kleinen Holzhütten ohne Öfen, die aus zwei bis drei kleinen Zimmern für 12 bis 15 Personen bestanden. Sie erfroren, starben an Entkräftung, Hunger, Seuchen oder fielen einer der zahlreichen willkürlichen Hinrichtungsaktionen zum Opfer. Die Einsatzgruppe A2 der SS berichtete Ende Januar 1942: „Die in allen Ghettos vorhandene Zusammendrängung der Juden bedingt naturgemäß eine größere Seuchengefahr. (…) In einzelnen Fällen wurden ansteckend erkrankte Juden unter dem Vorwand, in ein jüdisches Altersheim verbracht zu werden, ausgesondert und exekutiert.“ Im Dezember 1941 war die Todesrate besonders hoch. Die Toten konnten nicht begraben werden. Mit Dynamit wurde ein Loch in den tief gefrorenen Boden gesprengt, um die Toten zumindest notdürftig zu begraben. Und … als das Tauwetter einsetzte, mussten die noch Lebenden ihre Bekannten, Nachbarn und Angehörigen nochmals beerdigen.

Zu ersten Massenexekutionen kam es im Frühjahr 1942. Am 28.07.1942 dann begann als Vergeltung für das Attentat auf den Chef der Sicherheitspolizei und des SD Reinhard Heydrich im Rahmen der sog. „Aktion Reinhard“ eine der skrupellosesten Massenexekutionen im von Hitler propagierten Vernichtungskrieg gegen „das europäische Judentum“. Im Urteil des Landgerichts Koblenz gegen Adolf Rübe und andere NS-Verbrecher heißt es: „Die Aktion begann am Morgen des 28.07.1942, als die zahlreichen Arbeitskommandos bereits ausgerückt waren. Unter Hinzunahme von Kräften der Eisenbahn, der Organisation Todt sowie der Gendarmerie wurde das gesamte Getto umstellt und abgeriegelt. Alsdann untersuchten Räumungskommandos das Getto und holten die Menschen aus den Häusern. Sie wurden zum Gettoausgang getrieben, wo sie sich sammeln mussten. Schubweise wurden sie dann zum Exekutionsgelände bei dem Gut Tostinez gefahren. Da die Fahrzeuge der Dienststelle für eine so große Aktion nicht ausreichten, wurden zusätzliche Fahrzeuge der Eisenbahn und anderer Minsker Dienststellen herangezogen. Darüber hinaus beförderten auch Gaswagen (…) Menschen zur Grube. (…) Ob und in welchem Umfang die Gaswagen (…) auch zum Vergasen eingesetzt wurden, konnte nicht zuverlässig geklärt werden. Der überwiegende Teil der Opfer wurde jedenfalls von Hand mittels Pistole durch Genickschuss umgebracht.“ Das Eigentum der Ermordeten wurde zurück nach Deutschland transportiert und als „Spende der weißrussischen Bevölkerung für das deutsche Volk“ deklariert. Das jedenfalls verkündete eine weithin sichtbare Aufschrift. Als Betty Heidemanns Todesdatum gilt der 28.07.1942. Sie ist 52 Jahre alt geworden. Ein Hinweis darauf, dass Betty Heidemann amtsgerichtlich für tot erklärt wurde, enthält weder die Verdener Einwohnermeldekarte noch die Osterholzer Geburtsurkunde. Letztere enthält lediglich zwei Randbemerkungen: erstens über die Annahme des „zusätzlichen Vornamens Sara“ am 27.01.1939 und zweitens über die Löschung dieses
Zwangsvornamens am 17.09.1948.

Quellen:

  • »Stolpersteine« Biografien aus Verden Gedenksteine für die Opfer des Nationalsozialismus von Werner Schröter / Joachim Woock, Verein für Regionalgeschichte Verden e.V.
  • Stadtarchiv Verden: Rep. III, „Pascheberg-Akten“ Nr. 14 ff
  • Stadtarchiv Verden: Alte Meldekartei, Adressbücher 1904, 1910, 1922,1927, Einwohnerbuch 1934
  • Institut Theresienstädter Initiative ( E-Mail vom 26.03.09)
  • Staatsarchiv Bremen: 4,54 – E 11183 (Entschädigungsakten)
  • (ehemaliges) Foto-Archiv Troue: Postkarte mit Bankhaus
  • Staatsarchiv Bremen (Hg.): „…sind Sie für den geschlossenen Arbeitseinsatz vorgesehen…“ »Judendeportationen« von Bremerinnen und Bremern während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, Kleine Schriften des Staatsarchivs Bremen, Heft 36, Bremen 2006
  • Bruss, Regina: Die Bremer Juden unter dem Nationalsozialismus, Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen, Bd. 49, Bremen 1983
  • Chladkova, Ludmilla: Ghetto Theresienstadt, Dokumente Gedenkstätte Terezin, Band 234, Prag 1995
  • Giordano, Ralph: »Ich bin angenagelt an dieses Land« Reden und Aufsätze über die deutsche Vergangenheit und Gegenwart, 4 Bde, Hamburg 1992
  • Gutman, Israel (Haupt-Hg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, 4. Bde, München/Zürich o.J.
  • Stadt Verden (Hg.): Urgroßvaters Tagebuch. Aufzeichnungen von Ascher Lämle Weldtsberg, gen. Lehmann, Verden a. d. Aller, 1769 bis 1858. Nachdruck der Ausgabe von 1936 (Ergänzungen durch Jürgen Weidemann), Verden 1989
  • Voigt, Otto: Die Neubürger der Stadt Verden (Aller) von 1814 bis 1919. Geschichte der Stadt Verden (Aller) in Einzeldarstellungen, Bd.16, Verden 1987
  • Verdener Nachrichten vom 23.11.1985 („In der Vaterstadt völlig unbekannt geblieben“)
  • Verdener Nachrichten vom 18.11.1991 (J. Weidemann: Vor 50 Jahren: Juden ins Ghetto Minsk deportiert)
  • Verdener Anzeigenblatt vom 24.04.1924
  • www.holocaust.cz/cz2/victims/document/9351
  • Stadtarchiv Verden: Rep. III, „Pascheberg-Akten“, Nr. 14 ff
  • Stadtarchiv Verden: Alte Meldekartei, Adressbücher 1904, 1910, 1922, 1927
  • Institut Theresienstädter Initiative (E-Mail vom 26.03.09)
  • Staatsarchiv Bremen: 4,54 – E 11183 (Entschädigungsakten)
  • Staatsarchiv Bremen (Hg.): „…sind Sie für den geschlossenen Arbeitseinsatz vorgesehen…“ »Judendeportationen« von Bremerinnen und Bremern während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, Kleine Schriften des Staatsarchivs Bremen, Heft 36, Bremen 2006
  • Staatsarchiv Bremen (Hg.): Erinnerungsbuch für die als Juden verfolgten Einwohner Bremens, die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wegen ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Glaubensgemeinschaft oder nach den Kriterien der nationalsozialistischen Rassegesetzgebung als Juden verfolgt wurden. Kleine Schriften des Staatsarchivs Bremen, Heft 37, Bremen 2006
  • Bruss, Regina: Die Bremer Juden unter dem Nationalsozialismus, Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen, Bd. 49, Bremen 1983
  • Chladkova, Ludmilla: Ghetto Theresienstadt, Dokumente Gedenkstätte Terezin, Band 234, Prag1995
  • Giordano, Ralph: ››Ich bin angenagelt an dieses Land‹‹ Reden und Aufsätze über die deutsche Vergangenheit und Gegenwart, Hamburg 1992
  • Haag, Christian: Das Schicksal der jüdischen Bürger Verdens unter dem Nationalsozialismus. Bibliothec Gymnasii 1991 (maschinenschriftlich 1965)
  • Verdener Nachrichten vom 18.11.1991 (J. Weidemann: Vor 50 Jahren: Juden ins Ghetto Minsk deportiert
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