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Große Straße 56

Henriette Goldschmidt, Hanni Baumgarten

Henriette (Jettchen) Goldschmidt, geb. Baumgarten, wurde am 14.04.1877 in Achim geboren. Sie war die Schwester von Emma Baumgarten und Amalie Löwenstein, geb. Baumgarten. Am 03.03.1906 zog sie von Achim nach Verden und wohnte hier ununterbrochen bis zu ihrer Deportation am 17.11.1941. Sie war verheiratet mit Joseph Goldschmidt. Das Ehepaar, das zwei Kinder hatte, zog mehrfach in Verden um. Die letzte gemeinsame Wohnadresse vor der Scheidung war seit dem 18.01.1933: Stifthofstraße 23.

Bereits am 10.10.1933 zog Henriette Goldschmidt mit ihrem Sohn Walter (*21.02.1921) in die Große Straße 56 um. Ihre Tochter Renate (*15.01.1911) zog seit 1929 mehrfach zwischen Verden und Hamburg hin und her, wohnte dann aber auch in der mütterlichen Wohnung, zuletzt zusammen mit ihrem Ehemann Hans Egon Förster vom 30.05.1934 bis zum 13.06.1934.

Auch ihre Nichte und Vollwaise Hanni Baumgarten (verh. Friedman) lebte bis zur abenteuerlichen Auswanderung 1940 nach Palästina in ihrem Haushalt. In einem schriftlich verfassten Zeitzeugenbericht aus dem Jahre 1985 heißt es dazu:

„Ich wurde im Jahr 1920 in Erfurt/Thüringen geboren, als Tochter von gut situierten jüdischen Eltern, die selbst auch schon in Deutschland geboren waren (mein Vater stammte aus Achim, meine Mutter aus Treysa in Hessen). Nach dem frühzeitigen Tode meiner beiden Eltern kam ich zusammen mit meinem vier Jahre jüngeren Bruder Horst im Jahre 1929 nach Verden, wo wir bei Schwestern meines verstorbenen Vaters aufgenommen wurden. Ich lebte in der Großen Straße 56 bei meiner Tante Henriette Goldschmidt. (…) Mein Bruder lebte bei Julius und Amalie Löwenstein in der Großen Straße 43.“

Henriette Goldschmidt

Hanni Baumgarten

Henriette Goldschmidt war somit für zwei minderjährige Kinder verantwortlich, die die Konsequenzen der nationalsozialistischen Schul- und Rassenpolitik mehr
oder minder drastisch am eigenen Leibe zu spüren bekamen: Hanni Baumgarten als Schülerin des Lyzeums (heute Gymnasium am Wall) von 1932 bis 1936 und Walter
Goldschmidt als Schüler des Domgymnasiums von 1931 bis 1935. Beide brachen die schulische Ausbildung unter enormem psychischen Druck, v.a. Notendruck, stehend ohne den gewünschten Abschluss ab. Hanni Baumgarten begann eine Schneiderlehre und Walter Goldschmidt eine Gärtnerlehre. Die längst vorbereitete „rassische  Absonderung (…) jüdischer Schüler“ wurde nach und nach realisiert. Insbesondere für Frauen wie Henriette Goldschmidt mit zweifacher Belastung als Geschäftsinhaberin und allein erziehende Mutter veränderte sich der Alltagspürbar. Sie musste erstens unter angsterfüllten Bedingungen für das Mittagessen sorgen und musste dann auch noch am Mittagstisch ihren Kindern erklären, warum sie von Mitschülern drangsaliert, von Lehrern gemobbt und von vermeintlichen Freunden gemieden wurden. Jüdische Ehen und jüdisches Familienleben standen spätestens seit den „Nürnberger Gesetzen“ vom 15.09.1935 nicht mehr unter dem „besonderen Schutz der Verfassung“. Die jüdische Mutterschaft hatte keinen „Anspruch auf Schutz und Fürsorge des Staats“. Ein irgendwie gearteter Protest gegen das, was ihr Sohn laut einem Zeitzeugenbericht von Uri Bustan (→Agathe Baumgarten) erlebte? Von vornherein erfolglos!

„Walter Goldschmidt ging mit mir in eine Klasse. Er hatte rötliches Haar und abstehende Ohren. Unsere Mitschüler liebten ihn nicht sehr, da er ein recht kluger Junge, aber ein völlig unsportlicher Typ war. Walter wurde in der Nazizeit die Zielscheibe vieler Quälereien. So spuckte sich z.B. ein Junge auf die Stiefelspitze. Zwei andere packten Walter, verdrehten ihm die Arme, brachten ihn auf die Knie und zwangen ihn unter Gejohle und Gespött, dem Bengel die Stiefel abzulecken. Oder man zog ihm
die Hosen runter, riss obszöne Witze über sein beschnittenes Glied. Darauf kamen drei weitere Helden und stopften ihm Schnee in die Unterhosen. Zum Schluss wurde er regelrecht bepinkelt. Ich möchte feststellen, dass die aufsichtführenden Herren nur in den seltensten Fällen einschritten. Auch dann begnügten sie sich nur mit der Unterbrechung der Quälereien. Nie wurde einer bestraft. Die Quälgeister waren Söhne wohlhabender Eltern aus Verdens bester Gesellschaft.“

Henriette Goldschmidt war offensichtlich eine tatkräftige und auf Selbständigkeit bedachte Frau. Unter ihrem Mädchennamen Henriette Baumgarten hatte sie als Putzmacherin schon in den zwanziger Jahren „Damen- und Herrenhüte in großer Auswahl“ angeboten. Geschäftsadresse war: Große Straße 72 in Verden. Dort wohnte sie bis 1922. Da sämtliche Akten der jüdischen Gewerbebetriebe 1941 aufgrund eines „Erlasses des damaligen Reichsministers der Finanzen vernichtet“ worden sind, ist
nicht mehr zu ermitteln, wann Henriette Goldschmidt das Ladengeschäft in der Großen Straße 62 eröffnete und wann sie es in die Ostertorstraße 2 verlegte, „angeblich 1936“ laut Auskunft der Stadt Verden „im Entschädigungsverfahren der Renate Förster“ 1957.

Jüdische Einzelhandelsgeschäfte mussten bereits zum 10.10.1938 besonders gekennzeichnet sein, darunter auch Henriette Goldschmidts „Putzgeschäft“. Schaufenster und Ladeneingang mussten „in weißer Druckschrift (Balkenschrift) von 20 cm Höhe an gut sichtbarer Stelle“ außen mit dem ausgeschriebenen Vor- und Zunamen
beschriftet werden. Einen Monat später war die „Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ faktisch abgeschlossen. In den frühen Morgenstunden des
10.11.1938 klingelten SA-Männer auch an der Haustür Große Straße 56. Der Hauseigentümer Friedrich Schramm öffnete und verweigerte ihnen couragiert den Zutritt. Da in dem Haus kein jüdischer Mann wohnte, gab es auch niemanden, den sie verhaften konnten. Allerdings wurden in der noch häufig so bezeichneten „Reichskristallnacht“ auch die Schaufenster ihres Geschäftes demoliert. Unter dem Gejohle der Zuschauer wurden die Scherben „zur Wiederherstellung des  Straßenbildes“ von den Geschädigten selbst beseitigt. „Alle Schäden, welche durch die Empörung des Volkes über die Hetze des Internationalen Judentums gegen
das nationalsozialistische Deutschland (…) an jüdischen Gewerbebetrieben entstanden sind“, mussten von den Geschäftsinhabern auf eigene Kosten beseitigt werden4. „Versicherungsansprüche von Juden deutscher Staatsangehörigkeit“ wurden „zugunsten des Reichs beschlagnahmt“. Da Henriette Goldschmidt finanziell nicht in der Lage war, die Rechnung für zwei von der Stadt in Auftrag gegebene und bereits eingesetzte Schaufensterscheiben in Höhe von 241,60 RM zu bezahlen, erhob sie, letztendlich erfolglos, Einspruch gegen die Instandsetzung ihrer Schaufenster:

„Es ist mir nämlich ganz unmöglich auch nur einen kleinen Betrag aufzubringen, da ich nicht mal das Notwendigste zum Leben habe.“ Ihr Geschäft blieb für immer geschlossen. „Die Lebensbedingungen für Juden in Deutschland wurden (…) immer unerträglicher“ (Hanni Friedman). Am 17.12.1938 stellte Henriette Goldschmidt
einen „Antrag auf Ausstellung eines Reisepasses. Unter „Reiseziel und Reisezweck“ gab sie „Palästina (Auswanderung)“ an. Dazu aber kam es trotz vorliegender  Unbedenklichkeitsbescheinigungen nicht mehr. Hanni Friedmans Begründung dafür: „Die meisten in Frage kommenden Einwanderungsländer hatten Angst vor dem Zustrom von – inzwischen verarmten – Emigranten und öffneten widerwillig ihre Tore fast nur für ausgebildete Handwerker oder Landwirte oder aber für Personen mit
Eigenkapital.“ Henriette Goldschmidt jedoch war mittellos und bereits 61 Jahre alt. Mit „illegalen Transporten“ wie ihre Nichte über Tausende von Kilometern zu Lande und zu Wasser nach Palästina auszuwandern, kam für sie nicht in Betracht. Außerdem lebte ja noch ihr einziger Sohn in Deutschland. Henriette Goldschmidt gehörte zu den 21 jüdischen Einwohnern Verdens, die am 17.11.1941 in Verden in einen Zug gesetzt und am folgenden Tage von Bremen aus ins Ghetto Minsk deportiert wurden.
Dort ist Henriette Goldschmidt ermordet worden. Ein genaues Todesdatum gibt es nicht. Henriette Goldschmidt war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
nicht unter den „2600 Juden aus Deutschland“, die die Massenexekutionen zwischen dem 28. und 30.07.1942 überlebten, die „übrig blieben“, wie es in dem Bericht des zuständigen Generalkommissars Kube an seinen Vorgesetzen Lohse in der Sprache des NS-Schreibtischtäters hieß.

Quellen:

  • »Stolpersteine« Biografien aus Verden Gedenksteine für die Opfer des Nationalsozialismus von Werner Schröter / Joachim Woock, Verein für Regionalgeschichte Verden e.V.
  • Stadtarchiv Verden: Rep. III, „Pascheberg-Akten“, Nr. 14 ff
  • Stadtarchiv Verden: Rep. II Schule H I, 5,2
  • Stadtarchiv Verden: Alte Meldekartei, Adressbücher 1910,1922 ,1927, Einwohnerbuch 1934
  • Archiv des Domgymnasiums Verden: Schülerhauptverzeichnis, Klassenbücher 1931/32 ff
  • Archiv des Gymnasiums am Wall: Beobachtungsbogen Hanni Baumgarten
  • Staatsarchiv Bremen (Hrsg.): „ … sind Sie für den geschlossenen Arbeitseinsatz vorgesehen…“ »Judendeportationen« von Bremerinnen
    und Bremern während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Kleine Schriften des Staatsarchivs Bremen, H. 36, Bremen 2006
  • Bundesarchiv Koblenz (Hg.): Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland, 4 Bde, 2. wesentlich erweiterte Auflage, Koblenz 2006
  • Giordano, Ralph: ››Ich bin angenagelt an dieses Land‹‹ Reden und Aufsätze über die deutsche Vergangenheit und Gegenwart, Hamburg 1992
  • Voß, Andreas: Die jüdische Gemeinde in Achim 1742 – 1942, Achim 2004 (Geburtsurkunde)
  • Weidemann, Jürgen: Novemberpogrom 1938 ‹‹ Kristallnacht›› in Verden, Verden (Aller) o.J. (1988)
  • Verdener Nachrichten vom 17.05.1985 (Zeitzeugenbericht Uri Bustan)
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