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Obere Straße 57

Pola Fogel

Pola Fogel (Jg. 1927) lebte mit ihren Eltern und drei Schwestern seit 1941 im Ghetto von Rawa Mazowiecka. Sie konnte 1942 zu einer befreundeten deutschen Familie fliehen, die ihr eine Einberufung zur Arbeitsdienstpflicht für Lucyna Gorgas, ein zwei Jahre älteres katholisches Mädchen, besorgten.

Viele Polinnen, die einen Gestellungsbefehl nach Deutschland erhielten, waren froh diesen loszuwerden. Mit 15 Jahren kam Pola im Oktober 1942 als Zwangsarbeiterin nach Verden in die Druckerei Lührs & Röver. Sie hatte große Angst entdeckt zu werden. Die Familie des Druckereibesitzers nahm sie wie ein Familienmitglied auf. Sie bekam ein eigenes Zimmer und neue Kleidung.

1946 wanderte sie mit einer Gruppe illegal nach Palästina ein, heiratete und lebte bis zu ihrem Tode 1988 in einem Kibbuz.

Pola Fogel berichtet

„Eigentlich hätte ein fünfzehnjähriges jüdisches Mädchen aus Polen, infolge der Endlösung, die das Dritte Reich mir anbot, schon im Jahre 1942 in einem Vernichtungslager umgebracht werden müssen. Trotzdem gelangte ich nach Verden, und zwar als polnisches, katholisches Bauernmädchen. […] Seit 1941 waren meine Eltern, meine drei Schwestern und ich im Ghetto Rawa Mazowiecka. […] Während es den anderen Polen möglich war, durch Tauschhandel Nahrungsmittel zu erlangen, litten wir im Ghetto Hunger. […] Im September 1942 drangen SS-Leute in das Ghetto ein und machten regelrechte Straßenjagden auf Juden […] und verschickten sie an einen ´unbekannten Platz´. […] Ein junger Bursche, der aus dem Transport entwischen konnte und ins Ghetto zurückkehrte, erzählte uns, dass die Juden per Bahn in Viehwaggons nach Auschwitz gebracht wurden, wo sie liquidiert wurden. […] Eines Tages sagte uns meine Mutter, dass die volksdeutsche Familie Weiss bereit wäre, uns zu verstecken. […] Unsere Familien waren befreundet. […] Ich kam dann zur Familie Weiss. […] Während des Tages war ich in einer Nische zwischen zwei Betten versteckt, am Abend kam ich aus meinem Versteck und half der Familie Weiss bei der Arbeit.

Sowohl mir als auch der Familie Weiss war klar, dass ich nicht lange in ihrem Haus bleiben konnte. So freute ich mich, als Herr Weiss mich fragte, ob ich als polnische Arbeiterin nach Deutschland gehen wollte. […] Es war einfach, Papiere zu bekommen, da viele Polinnen, die einen Gestellungsbefehl nach Deutschland hatten, froh waren, diesen loszuwerden. […] Für die nächsten Jahre hieß ich dann Lucyna Gorgas, geboren am 2. Oktober 1925. In Wirklichkeit war ich zwei Jahre jünger. […]

Inzwischen kamen wir in Czestochowa an. Der Beamte auf dem Arbeitsamt schrieb mir eine Überweisung für das Sammellager aus. Während der vier Tage, die ich dort war, verließ mich keinen Augenblick die Angst, dass irgendeiner aus meiner Vaterstadt mich als Jüdin erkennen könnte. […] Mit Tausenden anderer Polinnen und Polen kam ich dann in den Transportzug nach Deutschland. Unterwegs sangen sie polnische Lieder, nur ich weinte die ganze Zeit. […] Ich war alleine, ganz ohne Familie und fürchtete mich vor dem unbekannten  Schicksal in Deutschland. […] Wir gelangten dann zum Lager Fallingbostel, wo russische Kriegsgefangene sich selbst verwalteten, nur die Bewachung war deutsch. Auch da wurden wir ärztlich untersucht, und zwar auf Schwangerschaft und Geschlechtskrankheiten. Die Untersuchenden waren Ärzte aus dem russischen Kriegsgefangenenlager. […] Dann wurden wir vier Mädchen nach Verden geschickt.

Wir meldeten uns auf dem Verdener Arbeitsamt. Bald kamen Bauern und suchten sich eine Arbeitskraft aus, die in ihren Augen kräftig und gesund genug aussah. Es kam mir wie ein Sklavenmarkt vor. Mich konnte kein Bauer gebrauchen.

Ich sah klein, krank und schwächlich aus, ich war ja auch nur 15 Jahre alt. […] Am selben Abend erschien ein Mann auf dem Arbeitsamt und fragte mich, ob ich schon mit Maschinen gearbeitet hätte. Ich antwortete: ´Ja, ich kann auf der Nähmaschine arbeiten.´ ´Gut´, meinte er, ´dann wirst Du an Druckereimaschinen lernen!´ Der Mann, Franz Mackensen, brachte mich in die Druckerei. […] Die Familie Mackensen nahm mich gut auf – wie ein Familienmitglied. […] Ich spielte meine Rolle mit viel Furcht im Herzen und großer seelischer Anspannung. […] Nach dem Krieg erfuhr ich, dass meine Eltern und meine kleine Schwester umgekommen waren. Meine beiden älteren Schwestern waren auf ähnliche Weise wie ich nach Deutschland gekommen. Eine lebt heute in Frankreich, die andere in der Tschechoslowakei. […] Ich traf mit anderen Juden zusammen. Von ihnen erfuhr ich, dass es möglich wäre, nach Palästina zu gelangen. Ich beschloss, den Traum meiner Eltern zu verwirklichen, den sie sich nicht erfüllen konnten. […] Am 26. August erreichten wir illegal (vom Gesichtspunkt der englischen Mandatsregierung) das Land Israel. Im Jahre 1942 kam ich legal nach Deutschland mit einer illegalen Identität, nach Palästina gelangte ich 1946 mit echter, legaler Identität, aber auf illegalem Wege. Hier habe ich geheiratet, im weitesten Sinne des Wortes, sowohl meinen Mann als auch das Land. Wir haben drei Kinder und leben im Kibbuz.“

Quellen:

  • Weidemann, Jürgen: Die Angst, die ich hatte, ist nicht zu beschreiben. Eine polnische Jüdin in Verden (1942-1945), in: Landkreis Verden (Hg.): Heimatkalender für den Landkreis Verden 1990, Verden 1989, S. 169-176.
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