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Mühlentor 21

Mathilde Rappe

Mathilde Marie Rappe wurde am 13.03.1907 in Verden als viertes Kind geboren. Der Vater, Friedrich Rappe war Zigarrenarbeiter, der drei Monate nach Mathildes Geburt auf Grund einer Tuberkuloseerkrankung verstarb. Ihre Mutter, Marie Sophie Dorothee Rappe, geb. Lüdemann, war von Beruf Schneiderin und verheiratete sich später wieder (Ehename Röhr). Im Jahre 1943 war sie dann allerdings wieder verwitwet.

Mathilde erkrankte an zerebraler Kinderlähmung, die in ihrem ersten Lebensjahr erkannt wurde, als man bemerkte, dass sie nicht laufen konnte. Arme und Beine waren gelähmt, Füße und Hände nur mangelhaft ausgebildet. Mit fünf Jahren kam sie im August 1912 zur Pflege in das Marienheim in Bad Rehburg. Nach sieben Jahren, am 29. September 1919, wandte sich die Stadt Verden an den Vorstand des „Asyls zur Pflege Epileptischer und Idioten“ in Rotenburg: „Nach einer uns von Marienheim zugegangenen Karte vom 25. d. Mts. leidet die Rappe nicht an Tuberkulose, sie ist nur verkrüppelt und geistig unnormal. Seitens der Anstalt wird gewünscht, sie von dort, wo nur Tuberkulöse aufgenommen werden und der Andrang so groß ist, fortzunehmen und einer anderen Anstalt zuzuführen denn Anstaltsbehandlung muß sie haben. Bei dortigem Vorstand fragen wir an, ob die Rappe im dortigen Asyl auf unsere Kosten Aufnahme finden kann.“ In einem Fragebogen zur ärztlichen Untersuchung im Jahre 1919 stellte der Arzt in Bad Rehburg fest: „Sprache: stammelnd, Kenntnisse: kaum, Womit beschäftigt sie sich: gar nicht, Körperhaltung: liegt dauernd, Grad der Geistesschwäche: Verblödung mit Lähmung  der Extremitäten.“

Als sie nach Rotenburg kam, wurde als vorläufige Diagnose „Idiotie“ in das Krankenblatt eingetragen, später dann die definitive Diagnose „Totalverkrüppelung, kein Schwachsinn“. Ein Jahr später berichtete der Arzt aus Rotenburg über die Zwölfjährige: „… daß Mathilde Rappe aus Verden dauernd liegen muß, am Tage im Wagen, nachts im Bett auf dem Laib, des Durchliegens wegen. Beine und Arme sind in der Entwicklung zurückgeblieben, Hände und Füße sind verkrüppelt; Glieder sind gelähmt. Sie muß gefüttert werden. Auch geistig ist das Kind bildungsunfähig. Aussicht auf Heilung besteht nicht.“

In ihrer Krankenakte befinden sich weitere Verlaufseintragungen (Auszüge):

  • 28.02.1921: „Befinden wechselt, meist heiter und voll Interesse für die Vorgänge in ihrer Umgebung, zuweilen beeinträchtigen Schmerzen in den Kniegelenken die Stimmung. Vollkommen hilfloses Wesen, muß dauernd zu Bette liegen.“
  • 09.04.1925 (18 Jahre): „Immer heiter und vergnügt, nur zeitweilig Magenbeschwerden mit Erbrechen, jedoch verhältnismäßig selten.“
    05.03.1928: „Freundlich und dankbar für jede Hilfeleistung; in der Berichtszeit im ganzen gutes Befinden.“
  • 06.04.1931: „Körperliches Befinden leidlich: Ist immer ruhig und zufrieden und interessiert für alles was um sie hervorgeht.“
  • 19.03.1936: „In letzter Zeit hat sie Angstgefühl, zittert am ganzen Körper. Puls ist schnell u. kaum zu fühlen. Starkes Herzklopfen.“
  • 05.03.1940: „Liegt dauernd tagsüber im Liegestuhl. Ist ganz unbeholfen. Psychisch recht frisch u. für alles interessiert. Spricht nur sehr schlecht. Körperlich sonst o. B.“

Am 8. Oktober 1941 wurde die Vierunddreizigjährige, zusammen mit 22 Frauen und drei Männern,  im Rahmen der „Aktion Brandt“ (auch als „Wilde Euthanasie“ bezeichnet) in die Kreis- Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee verlegt. Ein großer Teil der nach Irsee verlegten Männer und Frauen erhielt die “E-Kost“ (Entzugskost), jeder der „für die Volksgemeinschaft nichts mehr leisten könne“, wie der Direktor auf einer Betriebsversammlung erläuterte. Es war ein weitestgehend fett- und vitaminfreies Essen, das zum langsamen Verhungern führen sollte.

Die Krankenakte wurde in Irsee fortgeführt, es gibt aber nur drei Eintragungen:

  • 03.12.1941: „Schwerer Defekt. Dauernd bettlägerig, hochgradig verkrüppelt, hilflos, Essen muss gegeben werden. Pflegebedürftig, immerhin rein. Versteht an sich gestellte Fragen, spricht mit krächzender, schwer verständlicher Stimme.“
  • 25.01.1943 (36 Jahre): „Brütet gleichförmig im Bett dahin; muss ganz versorgt werden, kann infolge hochgradiger Verkrüppelung und Versteifung keine Glieder gebrauchen; zeitweise unruhig. Begreift die meisten Fragen, gibt kurze krächzende Antworten.“
  • 03.02.1944: „Exitus. Seit 8 Tagen mit Grippe erkältet, der sie nun erlag. Todesursache: Grippe mit Beteiligung der Atmungsorgane (beginnende Bronchopneumonie).“

Die Mutter von Mathilde Dora Röhr (verw. Rappe) erhält nach dem Tod ihrer Tochter deren Habseligkeiten zurück.

Quellen:

  • Standesamt Verden, Geburtenbuch
  • Archiv des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren, Krankenakte M. Rappe
  • Geschäftsführender Vorstand der Rotenburger Anstalten d. I. M. (Hrsg.): Zuflucht unter dem Schatten deiner Flügel? Die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission in den Jahren 1933-1945, Rotenburg 1992
  • Archiv der Rotenburger Anstalten, Verlegungslisten
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