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Kleine Fischerstraße 16

Heinrich Giesges

Heinrich Giesges (*26.10.1899 in Verden) litt unter epileptischen Krämpfen. Er lebte im Haus seiner Eltern Christian und Katharina Giesges in der Kleinen Fischerstraße 16.

Im März 1935 häuften sich seine Anfälle und er wurde in das Städtische Krankenhaus eingeliefert. Die Ärzte hielten die Überführung in eine „Irrenanstalt“ für notwendig. Der Amtsarzt, Medizinalrat Dr. Zimmermann, begutachtete den Patienten und sah keinen Grund zur Anstaltsüberführung. Einen Monat später wurde er wieder dem Krankenhaus in Verden zugeführt, da er Zuhause einen Tobsuchtsanfall hatte. Daraufhin erging eine polizeiliche Verfügung: „Im öffentlichen Interesse muss er einer geeigneten Anstalt, und zwar nach Ansicht der Ärzte, einer Heil- und Pflegeanstalt zugeführt werden, denn in seinem Leiden gefährdet er seine Mitmenschen. Die Unterbringung wird angeordnet.“ Am 4. Mai 1935 wurde er in die „Heil- und Pflegeanstalt für Epileptische, Geistesschwache und –kranke“ in Rotenburg eingeliefert.

Im August 1935 wandte sich Superintendent Garrelts im Namen der inzwischen verwitweten Mutter an die Anstalt und bat darum, den Sohn für 14 Tage zu beurlauben: „Frau Giesges wohnt in meinem Pfarrbezirk. Ich habe den Eindruck einer durchaus rechtschaffenden Frau. Die äußeren Bedingungen in dem Hause sind auch so, dass der junge Giesges dort unbedenklich zu Besuch sein kann.“ Der Urlaubswunsch der Mutter wurde aber abgelehnt: „Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass auf Grund des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses es uns verboten ist, erbkranke oder erbkrankverdächtige Pfleglinge zu beurlauben oder zu entlassen. Ihr Sohn fällt unter diese Bestimmungen und kann nicht eher beurlaubt werden, bis das Erbgesundheitsgericht entschieden hat, ob eine Unfruchtbarmachung erfolgen  muss oder nicht.“ Bereits vier Tage später übersandte die Mutter der Anstalt Unterlagen (u. a. Militärpass), „aus denen einwandfrei hervorgeht, daß mein Sohn vor seiner Kriegsdienstzeit völlig gesund gewesen ist. Der Verdacht der Erbkrankheit wird dadurch vollkommen entkräftet. Meine Eltern u. Geschwister und ebenso die Angehörigen meines verstorbenen Mannes sind alle hochbetagt und gesund. Ich bitte darum nochmals meinem Antrage auf Kurzurlaubung meines Sohnes stattzugeben.“ Der Antrag wurde aber wieder abgelehnt, da noch keine Entscheidung des Erbgesundheitsgerichtes vorlag.

Am 6. Februar 1936 beschloss das Erbgesundheitsgericht beim Amtsgericht in Verden unter Mitwirkung des Amtsgerichtsrates Dr. Görges als Vorsitzenden und der Ärzte Medizinalrat Dr. Menke in Wesermünde und Dr. Clasen in Verden die Sterilisation wegen „erblicher Fallsucht“. Als Begründung wurde aufgeführt: „Giesges ist als kleines Kind aus dem Kinderwagen gefallen und soll dadurch eine Klumpfußbildung rechts erhalten haben. Er besuchte die Schule in normaler Weise, und war später Gelegenheitsarbeiter ohne Berufsausbildung. Seit 1918 hat er Krampfanfälle, die zunächst als Ohnmachten und hysterische Anfälle angesehen wurden. 1923 war Giesges in der Bremischen Anstalt in Ellen, wo die Diagnose „Genuine Epilepsie“ gestellt wurde. Jetzt befindet er sich in den Rotenburger Anstalten. Er hat dort monatlich 2-6 Anfälle ohne Aura oft mit Zungenbiss, gewöhnlich bei Tage, aber auch nachts mit schweren tonischen und clonischen Krämpfen, aber ohne Einnässen. Anschließend ist er manchmal verwirrt, dann müde. Die ärztliche Diagnose lautet: Epilepsie, auf heredo-degenerativer Grundlage, ohne nachweisbare äußere Ursachen. Nach dem ärztlichen Gutachten steht fest, dass Giesges an erblicher Fallsucht leidet. Da auch zu erwarten ist, dass er sein Leiden weiter vererben wird, war seine Unfruchtbarmachung geboten.“ Diese wurde vier Wochen später durchgeführt. In der Anstalt wurde Heinrich dann für Zimmerreinigung und leichte Gartenarbeiten eingesetzt.

Seine Mutter stellte ab August 1936 immer wieder Anträge, ob ihr Sohn für vier Wochen zu ihr kommen könne. Die Urlaubsgesuche wurden aber jedesmal abgelehnt mit der Begründung: „Es ist jedoch nicht angängig, dass die Kranken jährlich mehrfach wochenlang beurlaubt werden. Darunter leidet die Disziplin und die Ordnung der Anstalt in einem unerträglichen Maße.“ Im Juni 1937 lehnte die Anstalt wieder den Antrag der Mutter ab, ihren Sohn versuchsweise für drei Monate zu entlassen: „Wir halten eine Anstaltsentlassung des G. bei seiner leichten Erregbarkeit noch für verfrüht und müßten jede Verantwortung für eine Entlassung ablehnen.“ Frau Giesges insistierte weiter und erreichte auch, dass der Kreisausschuss des  Bezirksfürsorgeverbandes einen dreimonatigen Urlaub befürwortete. Daraufhin teilte die Anstalt im August mit „dass wir für eine Entlassung jede Verantwortung ablehnen, nur, wenn die Verantwortung uns abgenommen wird, könnten wir G. versuchsweise vorerst auf 3 Monate beurlauben.“ Am 20. Oktober 1937 war es dann endlich soweit, nachdem die Mutter schriftlich die Verantwortung für ihren Sohn übernommen hatte – Heinrich Giesges kam für drei Monate zurück  in sein Elternhaus. Danach musste er aber wieder zurück nach Rotenburg. Auch in den folgenden Jahren bat die Mutter, ihren Sohn zu Ostern und Weihnachten in Verden in die Arme schließen zu dürfen. Es wurden aber immer nur wenige Tage genehmigt. Nach Aktenlage war ihr Sohn das letzte Mal für drei Tage im Juni 1940 zu Besuch in Verden.

Ein Jahr später, am 3.10.1941, wurde Heinrich Giesges zusammen mit 69 männlichen Patienten (darunter auch Wilhelm Nullmeier, s. Stolperstein) in die Heil- und Pflegeanstalt nach Günzburg (Bayern) verlegt. Am Tag darauf folgen ihnen aus Rotenburg 70 Frauen. Der erste Bericht in der Günzburger Krankenakte lautet: „Mehrere Anfälle im Monat, dazu auch Dämmerzustände. Beschäftigt in der Herstellung von Schuhabstreifern. Äußert Wünsche, schreibt auch Briefe. Keine Verstimmung, nicht auffällig durch Reizbarkeit, ist zufrieden.“ Im Juli 1943 wurde er noch der Musterung unterzogen und für „völlig untauglich“ befunden. Am 3. November 1943 wandte sich seine Schwester Mina, die in der Nähe von Straßburg im Elsass lebte, an die Anstalt in Günzburg und teilte mit, dass sie ihren Bruder besuchen möchte und bat um sofortige Nachricht, ob das Heim weit von der Bahnstation liegen würde. Der letzte Eintrag vom 10.11.1943 ist vielsagend: „Dämmerzustände und Anfälle ohne Veränderung. Nicht mehr beschäftigt, unbrauchbar. Ziemlich gleichgültig und wunschlos. Kann kaum Briefe lesen.“

Sechs Tage später wurde er in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, ca. 40 km von Günzburg entfernt, verlegt. Interessant ist, dass zwischen Empfang der Besuchsankündigung der Schwester und der Verlegung nach Kaufbeuren ca. eine Woche verging. Den Akten ist nicht zu entnehmen, dass die Schwester tatsächlich ihren Bruder besuchen durfte.

Nach vier Wochen Aufenthalt in Kaufbeuren wurde der erste Eintrag in der Krankenakte angelegt: „Hatte schon 2 mal einen Dämmerzustand, in welchem er sehr erregt und gewalttätig wurde. Anfälle wurden nicht beobachtet. Sonst stumpf, liegt immer auf den Bänken herum, spricht nichts, zu keiner Beschäftigung zu gebrauchen. Nicht unrein.“ Der letzte Eintrag stammt vom 3. April 1944, seinem Todestag: „In letzter Zeit rascher allgemeiner körperlicher Verfall, insbesondere infolge der lang anhaltenden Dämmerzustände, in welchen er kaum Nahrung zu sich nimmt. Heute 14 Uhr 10 Exitus letalis unter den Zeichen allgemeiner Herzschwäche.“ Der Leichnam wurde seziert und als Todesursache doppelseitige Lungentuberkulose attestiert.

Man muss davon ausgehen, dass er in der Anstalt auf die so genannte „Hungerkost“ gesetzt wurde, die nachweislich in Kaufbeuren praktiziert wurde. Bei einer Größe von 163 cm wog Heinrich Giesges bei seiner Aufnahme in Rotenburg im Jahre 1935 genau 62 kg. In den Krankenberichten bis 1941 wurde sein Ernährungszustand immer als „gut“ bezeichnet. Im Sektionsbericht wurde dagegen ein Gewicht von 37 kg angegeben!

Frau Giesges wurde noch am Todestag per Telegramm benachrichtigt. Drei Tage später schickte sie ein Telegramm an die Anstaltsleitung: „KOMMEN FREITAG MORGEN MOECHTE MEINEN SOHN HEINRICH NOCH SEHEN = GRUSS GIESGES“. Ob sie tatsächlich anreisen konnte, ist nicht übermittelt. Die Beerdigung („Armensarg“) fand am 8. April 1944 um 11.30 Uhr auf dem anstaltseigenen Friedhof statt.

Quellen:

  • Niedersächsisches Landesarchiv, Staatsarchiv Stade, Rep. 172 E Verden (Erbgesundheitsgericht Verden), Nr. 533; Rep. 138 Verden (Gesundheitsamt Verden), Nr. 4
  • Stadt Verden, Meldekartei (alt) Stadt Verden
  • Archiv des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren, Krankenakte H. Giesges
  • Geschäftsführender Vorstand der Rotenburger Anstalten d. I. M. (Hrsg.):
  • Zuflucht unter dem Schatten deiner Flügel? Die Rotenburger Anstalten der   Inneren Mission in den Jahren 1933-1945, Rotenburg 1992
  • Archiv der Rotenburger Anstalten, Verlegungslisten
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