Die Söhne konnten nach dem Besuch der Volksschule (Nikolaischule) zum Domgymnasium in die »Sexta« (5. Klasse) übergehen. Werner besuchte das Domgymnasium von Ostern 1931 bis zum 01. Januar 1936 und Gerhard Baumgarten von Ostern 1934 bis zum 24. Juni 1938. Werner Baumgarten absolvierte anschließend eine Schlosserlehre in Köln »bei einem Onkel«. Gerhard Baumgarten meldete sich am 16. August 1938 nach Hamburg zum dortigen Israelitischen Gymnasium ab. »Er fährt nicht allein. Den schicken wir mit Gott«, habe Agathe Baumgarten auf Bedenken ihrer Nachbarn laut Zeitzeugin Meta Cordes geantwortet.
Dass insbesondere Jungen das in die Tat umsetzten, was Hassparolen und antisemitische Hetze androhten, erlebte Uri Bustan schon im Sommer 1932. Er war Zeuge einer »wütenden Prügelei zwischen dem jüdischen Tertianer Herbert Jonas« (s. Gruppenfoto Martha Baumgarten) und einem Hitlerjungen. »Hau den Juden, Jude verrecke, auf die krumme Judennase«, hätten auch die überwiegend nicht in der Hitlerjugend organisierten Jungen geschrien. Nur ein einziger nichtjüdischer Mitschüler habe zu Herbert Jonas gestanden.
»Jetzt muss er uns schützen, er hat auf die Verfassung geschworen«, habe Arnold Baumgarten, der schon 1932 in den Vorstand der Verdener Synagogengemeinde gewählt worden war, ausgerufen, als Hitler am 30. Januar 1933 den Kanzlereid schwor. Er nahm in seinem Rechtsvertrauen das wahr, was er wahrnehmen wollte. Die Wahrnehmung seines Sohnes war eine andere: »Die Anfänge der ‚nationalen Revolution’ entfachten viel Begeisterung in der Jugend. (…) Wir Juden waren davon ausgeschlossen. Es wurde viel und bei jeder Gelegenheit marschiert und gesungen. Mit Fackeln bei Nacht und mit Fahnen bei Tag. Dabei wurden Kampflieder gesungen wie: ‚Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt – Volk ans Gewehr – Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s noch mal so gut.«
Trotz zunehmender Repressalien, damit verbundener Umsatzeinbußen und staatlich angeordneter bzw. geduldeter gewalttätiger Übergriffe vom Boykott jüdischer Geschäfte am 01. April 1933 bis zur Kennzeichnungspflicht jüdischer Geschäfte im Oktober 1938 (s. Luise Baumgarten) führte Agathe Baumgarten dieses Einzelhandelsgeschäft bis zur Pogromnacht am 09./10. November 1938 weiter. »Auch in unserer Stadt Verden machte die Bevölkerung ihrem Herzen Luft, zertrümmerte die Fensterscheiben der jüdischen Geschäfte und zündete die Synagoge an«, hieß es in der Propagandasprache der NS-zensierten Zeitung »Verdener Neueste Nachrichten« vom 10. November 1938. Für die Beseitigung der Schäden »zur Wiederherstellung des Straßenbildes« musste Agathe Baumgarten als Geschäftsinhaberin selbst aufkommen. Die Rechnung für zehn im Auftrag der Stadt ersetzte Scheiben wies einen Betrag von 231,76 RM aus (s. Henriette Goldschmidt). Versicherungsansprüche wurden »zugunsten des Reiches beschlagnahmt«.
Die Mieterin Maria Göbbert (Große Str. 31) erinnerte sich 1964: »Ich selbst habe oben aus dem Fenster gesehen, dass später die Waren aus dem Laden von SA-Leuten abtransportiert wurden. Vor der Tür stand ein Fahrzeug, mit dem die Waren weggeschafft wurden.«
Arnold Baumgarten gehörte zu den verhafteten jüdischen Verdenern, die am Morgen des 10. November 1938 ins hiesige Gerichtsgefängnis eingeliefert wurden. Er wurde zusammen mit seinen Brüdern und seinem Neffen Siegfried Baumgarten erst am 27. November 1938 aus der »Schutzhaft« entlassen. Schon am 12. November 1938 hatte Hermann Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan die »Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben« zum 01. Januar 1939 verordnet. Sowohl eine Ausnahmegenehmigung für eine Weiterführung »zur Versorgung der Bevölkerung« als auch die »Arisierung« ihres Geschäftes wurden vom Landkreis am 06. Dezember 1938 in einer vom Landrat Weber geleiteten Besprechung abgelehnt.
Beraubt ihrer wirtschaftlichen Existenzgrundlage, stellten Agathe und Arnold Baumgarten am 22. Dezember 1938 Ausreiseanträge nach Palästina. Als »Passbewerberin« musste Agathe Baumgarten eine zusätzliche Erklärung abgeben. Obwohl behördlicherseits »keine Bedenken« gegen eine Passausstellung erhoben wurden, konnten sie ihre Auswanderungspläne nicht mehr verwirklichen. Sie verzogen am 31. März 1939 nach Bremen, Humboldtstraße 10. Am Tage ihrer Deportation ins Ghetto Minsk am 18. November 1941 wohnten sie in der Meinkenstraße 51.
Gemäß »Evakuierungsbefehl« mussten sich 442 Bremerinnen und Bremer, darunter auch Christen jüdischer Abstammung, noch vor Sonnenaufgang sammeln. Sie wurden in kleinen Gruppen zum Bahnhof geführt und dort einer stundenlangen demütigenden Abfertigungsprozedur ausgesetzt, ehe sie in den aus Hamburg eingetroffenen Deportationszug »verladen« wurden.
Die Fahrt dauerte mindestens drei Tage und drei Nächte und endete in der »Hölle von Minsk«. Von den ca. 22.000 nach Minsk deportierten jüdischen Deutschen überlebten nur höchstens 30 nach einer Schätzung des Holocaust-Überlebenden Heinz Rosenberg aus Hamburg. An den drei Tagen vom 28. bis 30. Juli 1941 seien auf Befehl aus Berlin insgesamt 10.000 bis 18.000 jüdische Menschen, die als nicht arbeitsfähig galten, innerhalb und außerhalb des Ghettos erschossen worden. Der 28. Juli 1942 gilt als Todesdatum von Agathe und Arnold Baumgarten. »Sie wurden in Minsk in Kiesgruben erschossen«, so Uri Bustan 1993 anlässlich eines Zeitzeugenberichts in der Verdener Hauptschule, »und in Massengräbern verscharrt. Wir wissen nicht wo. Es gab kein Grab. Unser Grabstein ist jetzt das Mahnmal.«
Offiziell für tot erklärt wurden sie laut Beschluss des Amtsgerichts Bremen (Az. II. 1112-1803/48) am 19. August 1948. Als »Zeitpunkt des Todes« wurde der 28. Mai 1945 festgesetzt.