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Große Straße 82

Ernst Philippsohn

Ernst Philippsohn (Jg. 1903) wurde 1903 in Schlüsselburg/Weser geboren. Er war der Cousin der Gebrüder Seckel, Inhaber eines Textilwarengeschäftes in Walsrode. 1929 hatten die Gebrüder Seckel das bisherige Geschäfts- und Wohnhaus der jüdischen Familie Fraustädter in der Großen Straße 82 käuflich erworben und in Verden eine Filiale gegründet. Ernst Philippsohn wohnte als deren wohl hauptverantwortlicher Geschäftsführer seit 1930 mit Zweitwohnsitz in Verden.

1936 musste Ernst Philippsohn NS-Deutschland verlassen, aber nicht wie geplant legal, sondern fluchtartig über die Niederlande bis nach Südafrika. Sein schon in Hamburg aufgegebenes Gepäck wurde durchsucht und eine hohe Geldsumme in RM und ausländischen Devisen gefunden Das Geld sollte in Südafrika zum Aufbau einer neuen Existenz für sich und seine Cousins verwendet werden. Vom Landgericht Verden wurde Ernst Philippsohn wegen »Devisenschieberei« in Abwesenheit zu 14 Monaten Gefängnis und einer hohen Geldstrafe verurteilt.

Besonders übel mitgespielt wurde den Inhabern des Textilgeschäftes Seckel. Max und Julius Seckel und deren Teilhaber und Prokuristen Ernst Philippsohn, trotz des Boykotts geschäftlich offenbar auch weiterhin recht erfolgreich. Das Geschäft stand unter Beobachtung der Verdener Geheimen Staatspolizei (Gestapo), die meist vom schräg gegenüberliegenden Ladengeschäft von Kürschner Adolf Heincke, Vater und Sohn, in der Großen Straße Nr. 83 aus agierte. Kunden der Seckels wurden von hier aus beobachtet, fotografiert und dann drangsaliert und unter Druck gesetzt.

Die Gebrüder Seckel und ihr Cousin Philippsohn sahen bald keine Perspektive mehr im NS-Deutschland. Ernst Philippsohn gelang im Februar 1936 über die Niederlande die Emigration nach Südafrika. Sein Reisekoffer wurde jedoch von Zoll und Gestapo beschlagnahmt. Am 29. Juni 1936 wurde Philippsohn daher in Abwesenheit vom Landgericht Verden wegen Devisenvergehens zu einem Jahr und zwei Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe von 15.000 Reichsmark verurteilt. Die Brüder Seckel, schon länger in Untersuchungshaft, wurden wegen Beihilfe zu sechs Monaten Gefängnis und jeweils 4.000 Reichsmark Geldstrafe verurteilt. Ihr Textilgeschäft in der Großen Straße 82/84 wurde zwangsenteignet und ging in das Eigentum des Reichs über.

Großformatige Anzeige Fa. Lipschinsky zur Neueröffnung (VA, 29. Juli 1936).

Die Brüder Seckel saßen vermutlich schon im Gefängnis, da erschien am 29. Juli 1936 diese Anzeige des Kaufmanns Felix Lipschinsky über die Neueröffnung des Kaufhauses unter der Firmierung Lipschinsky & Co. In seiner gut halbseitigen Anzeige heißt es: »Ein neuer Name für ein als leistungsstark bekanntes Haus« und »Eine neue Leitung für eine bewährte Einkaufsstätte«.

Man habe »ab heute« den »gesamten Warenbestand der ehemaligen Firma M. Seckel käuflich erworben.« Lipschinsky vergaß auch nicht den Hinweis, man sei eine »rein arische Firma«, die »‘arische‘ Gefolgschaft» sei »restlos übernommen« worden.
Sechs Jahre später, im Juli 1942, versteigerte das Finanzamt Verden im Auftrag der Oberfinanzdirektion Berlin/Brandenburg das Gebäude für 80.000 Reichsmark an Lipschinsky. Nach Abbüßung ihrer Strafe emigrierten die Brüder Seckel 1938 nach Rhodesien (heute Zimbabwe).

Quellen:

  • Hermann Deuter, »Arisierung« und »Entjudung« in Verden, in: Jüdisches Leben im Nationalsozialismus II (Themenheft doz20) S. 32-45
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