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Große Straße 29

Clara und Paul Baumgarten

Clara Baumgarten, geb. Bernhardt, wurde am 29.4.1892 in Berlin geboren.
Sie war verheiratet seit dem 16.07.1916 mit dem in Verden am 15.12.1882 geborenen Kaufmann Paul Baumgarten. Er war der mittlere von drei Söhnen (s. Julius Baumgarten, s. Arnold Baumgarten) des Produktenhändlers Salomon Baumgarten (1851 – 1929) und dessen Ehefrau Martha Baumgarten, geb. Marbe (1857 – 1919). Salomon Baumgarten hatte bereits 1879 und sein Sohn Paul noch 1918 das Verdener Bürgerrecht1 erworben. Er war Soldat im Ersten Weltkrieg und hatte sich als „Frontkämpfer“ eine Kriegsverletzung zugezogen, „ein krankes Bein“ laut Zeitzeugin Meta Cordes2. Das Ehepaar hatte einen Sohn. Günter Baumgarten (s. Gruppenfoto Martha Baumgarten) wurde am 23.08.1918 in Verden geboren. Er besuchte von 1928 bis 1934 das Domgymnasium und meldete sich am 20.04.1934 nach Köln ab.

Clara und Paul Baumgarten wohnten bis zu ihrer Abmeldung nach Bremen am 01.07.1939 in Verden, vom 10.10. 1933 bis zum 01.04.1939 in ihrem Haus in der Großen Straße 29. Dort betrieben sie ein Schuhwarengeschäft3. In einer „Liste der jüdischen Geschäfte in Verden“ vom 06.11.1936 allerdings wurde Paul Baumgarten als „Handelsagent“ geführt und in der vom 15.08.1938 steht unter Gegenstand des Gewerbes „Agentur- und Kommissionsgeschäft“.
Die Eintragung der noch sieben existierenden jüdischen Gewerbebetriebe in das Verzeichnis der jüdischen Gewerbebetriebe musste bestätigt werden.

Clara Baumgarten

Paul Baumgarten

Ob Paul Baumgarten sein Geschäft angesichts fortdauernder antijüdischer Repressalien, ständiger Überwachung durch die Gestapo und der daraus resultierenden Umsatzrückgänge schon vor dem inszenierten Pogrom am 9./10.11.1938 schließen musste, ist nicht mehr zu ermitteln. Er war sowohl von der Kennzeichnungspflicht jüdischer Gewerbebetriebe laut Polizeiverfügung vom 30.09.1938 (s. Luise Baumgarten) als auch von der „Verordnung zur Wiederherstellung des Straßenbildes“ vom 12.11.1938 nicht betroffen.

Paul Baumgarten gehörte aber zu den „20000 – 30000 (…) vermögenden Juden im Reiche“, die auf Weisung des Gestapo-Chefs Heinrich Müller vom 09.11.1938 festzunehmen waren. Ebenso wie seine Brüder und sein Neffe Siegfried Baumgarten wurde Paul Baumgarten in den Morgenstunden des 10.11.1938 verhaftet und bis zum 27.11.1938 in sog. „Schutzhaft“ genommen, in Wahrheit aber in Erzwingungshaft, um die unschuldig Inhaftierten zur Auswanderung zu nötigen und so in den Besitz ihres Vermögens zu kommen. Durch die „Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens“ vom 03.12.1938 wurde die „Arisierung“ des Grundbesitzes eingeleitet. Um „ungerechtfertigte Entjudungsgewinne“ zulasten der Reichskasse zu verhindern,
wurden die Grundstücksverkäufe kontrolliert und reglementiert. Es war darauf zu achten, „dass dem Juden zur späteren Finanzierung seiner Auswanderung“ und „zur Abdeckung öffentlicher und privater Lasten“ erforderliche Barmittel verblieben, „sein Lebensunterhalt“ gesichert war, „für den sonst letzten Endes die öffentliche Fürsorge aufkommen müsste.“ Weil viele Betroffene eine entschädigungslose Zwangsenteignung befürchteten, reagierten sie fast „eilfertig und willfährig“, so auch Paul Baumgarten und seine Brüder. Häuser und Grundstücke wurden „arisiert“, d.h. zwangsverkauft.

Clara und Paul Baumgarten hatten keine andere Wahl, als ihre Auswanderung nun konkret zu betreiben. Darüber wurde am 24.01.1939 mit Paul Baumgarten und am 26.01.1939 mit Clara Baumgarten vor der Ortspolizeibehörde (=Bürgermeister) Verden „verhandelt“. Obwohl die Staatspolizeidienststelle in Wesermünde, die Zollfahndungsstelle in Bremen, der  Gemeindevorstand in Verden, die Reichsbankanstalt in Bremen, der Oberfinanzpräsident (Devisenstelle) in Bremen und der Oberfinanzpräsident Berlin (Zentrale Nachrichtenstelle) und auch die NSDAP-Kreisleitung keine Bedenken gegen eine  Auswanderung nach England hatten, ist es nicht mehr zur Auswanderung gekommen.

Ohne wirtschaftliche Existenzsicherung und eingewiesen (am 01.04.1939) in das zum sog. „Judenhaus“ deklarierte Wohnhaus Holzmarkt 5 (s. Luise Baumgarten) entschlossen sich Clara und Paul Baumgarten unter dem Druck der Verhältnisse zum Umzug nach Bremen. Dort meldeten sie sich am 02.07.1939 in der Utbremer Straße 184b an. In Bremen wurde Paul Baumgarten als „Arbeiter“ geführt. Die Zeitzeugin Meta Cordes erinnert sich an eine aufschlussreiche Begegnung. Sie sei einmal mit ihrer Großmutter nach Bremen gefahren. In Bahnhofsnähe habe diese ihren ehemaligen Nachbarn gesehen. Ob schon mit
„Judenstern“ oder noch ohne, wusste Meta Cordes nicht mehr genau. „Das ist doch der Paul Baumgarten“, habe sie gerufen. Paul Baumgarten kalkte unter allerdings nicht uniformierter Aufsicht gerade den Kantstein. Begrüßen durften sie ihn nicht. Sie wurden weggeschickt. Als „Tag des Auszugs“ wurde mit der Bemerkung „evakuiert“ schon der 15.11.1941 auf der Meldekarte notiert. Seit Tagen schon waren die jeweiligen Dienststellen der Partei, der Verwaltung, der Polizei und der Reichsbahn mit den Vorbereitungen (Logistik) für die Deportation am 18.11.1941 beschäftigt. Als Koordinierungsstelle fungierte eine extra  eingerichtete Gruppe „Sonderzüge“. Die Fahrtkosten mussten die Deportierten selbst aufbringen: für Kinder unter vier Jahren einen und für alle anderen zwei Pfennige pro Schienenkilometer4.

Nach ca. dreitägiger Fahrt5 kam der Deportationszug aus Hamburg und Bremen in Minsk an. Der jüdische Transportleiter Dr. Franck aus Hamburg, mit „dreckiger Jude“ beschimpft und zusammengeschlagen, meldete dem befehlshabenden SS-Offizier die Ankunft von über 900 Männern, Frauen und Kindern. Wie viele Menschen den Transport nicht überlebten, ist nicht bekannt. Die traurige Gewissheit ist jedoch die, dass in dem Moment, in dem Opferzahlen genannt wurden, sie schon
nicht mehr stimmten. Es kann auch davon ausgegangen werden, dass nur wenige Deportierte überhaupt die katastrophalen
Bedingungen, die Brutalität und den Sadismus der SS-Schergen und schon gar nicht die Massenexekutionen Ende Juli 1942 in den Kiesgruben von Minsk überlebten. Als Todesdatum für Clara und Paul Baumgarten gilt der 28.07.1942. Amtlich für tot erklärt wurden sie auf Beschluss des Amtsgerichts Bremen (Az. II. 1112-1803/48) am 18.09.1948: „Zeitpunkt des Todes:
28.05.1945“.

Quellen:

  • »Stolpersteine« Biografien aus Verden Gedenksteine für die Opfer des Nationalsozialismus von Werner Schröter / Joachim Woock, Verein für Regionalgeschichte Verden e.V.
  • Stadtarchiv Verden: Rep. III, „Pascheberg-Akten“ Nr. 14 ff
  • Stadtarchiv Verden: Alte Meldekartei, Adressbücher 1904, 1910, 1922, 1927, Einwohnerbuch 1934
  • Nds. Staatsarchiv Stade: Rep. 86 Verden Nr.17 (Gefangenenbuch des Landgerichtsgefängnisses Verden)
  • Staatsarchiv Bremen: 4,82/1 Einwohnermeldekartei, 1. Schicht
  • Domgymnasium Verden: Schülerhauptverzeichnis
  • (ehemaliges) Foto-Archiv Troue: Foto-Nr. 995
  • Staatsarchiv Bremen (Hg.): „…sind Sie für den geschlossenen Arbeitseinsatz vorgesehen…“ »Judendeportationen« von Bremerinnen und Bremern während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, Kleine Schriften des Staatsarchivs Bremen, H. 36, Bremen 2006
  • Staatsarchiv Bremen (Hg.): Erinnerungsbuch für die als Juden verfolgten Einwohner Bremens, die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wegen ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Glaubensgemeinschaft
    oder nach den Kriterien der nationalsozialistischen Rassegesetzgebung als Juden verfolgt wurden, Kleine Schriften des Staatsarchivs Bremen, H. 37, Bremen 2006
  • Bruss, Regina: Die Bremer Juden unter dem Nationalsozialismus, Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Bremen, Bd. 49, Bremen 1983
  • Haag, Christian: Das Schicksal der jüdischen Bürger Verdens unter dem Nationalsozialismus, Bibliothec Gymnasii Verdensis, Verden 1991 (maschinenschriftlich 1965)
  • Schoenberner, Gerhard: Der gelbe Stern. Die Judenverfolgung in Europa 1933 – 1945, Frankfurt/M. 1991
  • Voigt, Otto: Die Neubürger der Stadt Verden (Aller) von 1814 bis 1919. Geschichte der Stadt Verden (Aller) in Einzeldarstellungen, Bd. 16, Verden 1987
  • Walk, Joseph: Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat, Heidelberg 2(1996)
  • Weidemann, Jürgen: Novemberpogrom 1938 – »Kristallnacht« in Verden, Verden o.J. (1988) Große Straße 29 und 31
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